Gast-Beitrag von Brigitta Höpler zum Silent Walk

Brigitta Höpler, Kunsthistorikerin, Autorin und Schreibpädagogin, habe ich vor etwas über 10 Jahren kennengelernt. Ich schätze ihr menschliches Wesen und ihre Arbeit sehr und ohne, dass wir einander oft sehen, ist da stets ein Gefühl von Verbundenheit zwischen uns. Im September 2021 nahm sie an einem meiner geführten Silent Walks teil und ließ mir ein paar Tage später diesen Text zukommen.


„Seit langem trage ich im Herbst die Worte aus Eva Strittmaters Gedicht Vor einem Winter mit mir herum, so wie die Kastanien in der Hand und in den Jackentaschen.

Ich mache ein Lied aus Stille und aus Septemberlicht … das Schweigen einer Grille … das Vogelbeerenrot … so geh ich in den Winter und so vergeh ich nicht.” 

Mit der Sehnsucht, diesem Lied der Stille näher zu kommen, mache ich mich auf den Weg zu Ángela Tröndles Silent Walk. Mit dem Fahrrad, der U-Bahn, der Schnellbahn. Wir treffen einander am Bahnhof in Hadersdorf. Lächeln und nicken einander zu, schweigend gehen wir los. Wie wohltuend, einander nicht vorzustellen, zu plaudern, zu fragen, zu antworten.

Bald gehen wir einen Bach entlang, bleiben auf einer Brücke stehen. Mit geschlossenen Augen. Fühle mich plötzlich so angenehm durchflossen. Auf dem Silent Walk spüre ich immer deutlicher, dass es jetzt darum geht einen neuen Rhythmus zu finden, zu leben, zu verinnerlichen. Heute lese ich im Herkunftswörterbuch, dass Rhythmus auf das griechische Wort rhythmós zurückgeht, das eigentlich das Fließen bedeutet, dessen übertragene Bedeutungen sich wohl aus dem Bild von dem stetigen Auf und Ab der Meereswellen entwickelt haben.

Zwar schon lange keine Schulkinder mehr habe ich immer noch diesen Rhythmus verinnerlicht, ein Bruch zwischen August und September, und das Gefühl „jetzt wird’s ernst, jetzt müssen wir alle wieder was tun”. Mein Septemberleben müsste sich allerdings nicht sehr vom Juli oder August unterscheiden. Es sind keine Brüche drinnen, kein vorgegebener „Ernst”, - nur der Wechsel der Jahreszeiten.

Der mir gestern beim stillen Gehen am Bach, über die Wiesen, durch den Wald so bewusst geworden ist. Und die Gleichzeitigkeit, in einem einzigen Blatt, grün, rot, gelb und das Fallende. Das Entblätternde.

Am Beginn fällt ein Lichtstrahl durch die entblätterten Bäume.
Sich also entblättern und dem Leben auf den Grund gehen.
Die Räume zwischen Beginn und Ende ausloten”.

Das habe ich 2018 für Ángelas Konzert open ||: Beginning, End :|| im Porgy&Bess geschrieben. In ihrer Musik, ihren Liedern, ihren Kompositionen ist die Stille schon lange ein Thema, zuletzt in ihrem Streichquartett No.1, Neue Geschenke der Nacht.

Im Gehen, im Da-sein, mit Ángelas Inspirationen komme ich für Momente vom Hören zum Lauschen, wie Sabine Burkhardt so schön beschreibt:
„Lauschen ist ein wunderbarer Akt der konzentrierten Versunkenheit. Eine Respektbezeugung. Und im Aktiven ein beglückender Vorgang.
Anders als beim (Zu)Hören. Da wird mehr gegeben und empfangen. Eine Hinwendung, beginnend mit einem gewundenen L.”

Es fällt mir nicht leicht, bei mir ist das Schauen so präsent, das Visuelle. Farben, Strukturen, Formen. Sauerampfer, ein Hagebuttenstrauch, Herbstzeitlose, Eicheln am Waldboden … hinter jedem Bild unzählige andere. Immer erinnert etwas an etwas.

Im gemeinsamen schweigenden Gehen und Wahrnehmen habe ich mein Handy als unglaublich störend empfunden. Lautlos ist nicht lautlos, ich habe es leise brummen gehört und mich so geärgert, warum ich es nicht zu Hause liegen lassen habe. Was für eine Zumutung, ständiger Erreichbarkeitl. Die Erwartungen schneller Antworten dahinter. Mein eigener Anspruch, für meine Kinder immer erreichbar zu sein, hat sich überholt, - die Kinder sind erwachsen. Also immer wieder ausschalten oder Flugmodus.

Mit ein paar Notizen, einer Miniatur und einem längeren Text sind wir in Ángelas Musikzimmer gesessen. Klavier, ein Lied von Ángela, unsere Stimmen, unsere Worte verweben sich.
Ich habe tief gespürt, wie „ein Lied aus Stille und aus Septemberlicht entsteht.”

 
 
Quellen: Eva Strittmater, Von einem Winter, © Aufbau Verlagsgruppe GmbH, Berlin 2006
(das Gedicht erschien erstmals 1973 in Eva Strittmater: Ich mach ein Lied aus Stille. Gedichte. Nachwort von Hermann Kant im Aufbau-Verlag.) Sabine Burkhardt, Lauschen, in: Lexikon der Schönheit, Literaturhaus Stuttgart, 2020.

→ Website von Brigitta Höpler
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